Hörte Wassily Kandinsky Musik, während er seine Genialität auf die Leinwand brachte? Das werden wir womöglich nie erfahren. Was wir jedoch mit Sicherheit sagen können, ist, dass er sich von den Werken Wagners, Schoenbergs und Mussorgsky’s inspirieren ließ. Seine Erfahrungen beim Musikhören beeinflussten ihn und seine Kunst sehr stark. Klang wandelte er nämlich in Farbbewegung um und nannte seine abstrakten Bilder zudem auch „Impression“, „Improvisation“ oder „Komposition“ – Begriffe, die wir sonst nur aus der klassischen Musik kennen.


links: Improvisation 26 (Rudern), 1912
rechts: Große Studie zu einem Wandbild für Edwin R. Campbell (Sommer), 1914
Was hat es mit dem Hören von Farben auf sich?
Dieser Umwandlugsprozess ist weniger mystisch als psychologisch. In der Forschung gibt es sogar einen gesonderten Begriff dafür: Synästhesie. Also der Prozess einer automatischen Kopplungen zwischen zwei verschiedenen Reizen (etwa Chromästhesie: Klänge→Farben). Das kann zum einen an einer engen Verschaltung benachbarter Hirnareale liegen („cross-activation“), oder an einer Enthemmung bestehender Rückkopplungen („disinhibited feedback“). Zweiteres heißt so viel wie: Das Gehirn lässt Infos aus einem Sinnesbereich leichter in andere Bereiche fließen, statt sie zu stoppen. Manche Menschen haben das, manche nicht.
Mein lieber Schatz (ein Geiger) sagte mir neuerdings, er könne das. Was mich überhaupt dazu veranlasste, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Er meinte, meine Sprechstimme würde gülden klingen. Wenn ich lustig gelaunt sei, eher zitronengelb. Wenn ich sowas schon höre, erlebe ich natürlich den Höhenflug des Jahrtausends. Das muss ich hier an der Stelle ganz offen zugeben.
Natürlich ist nicht jeder so gebaut wie dieser Musiker. Aber die aller meisten von uns werden unterscheiden können was mit „warme Farbe“ oder „kühler Ton“ gemeint ist. Was ein warmer Klang ist und was etwa ein metallisches, kaltes Geräusch ist. Und das obwohl Temperaturen weder gesehen noch gehört werden können. Höchstens ihre Auswirkungen. Ihr wisst schon, worauf ich hinaus will.

Wassily Kandinsky: Synästhesie oder doch nur Strategie
„Farbe ist die Taste, das Auge der Hammer, die Seele das Klavier mit vielen Saiten“, schrieb Kandinsky in „Über das Geistige in der Kunst“ (1911). Vor allem in der abstrakten Phase seiner Kunst lebt er dieses Prinzip und spielt mit der Leuchtkraft und Kombination seiner Farben, die beim Betrachter eine tiefe Emotionalität hervorrufen können. Ich für meinen Teil bin nach einer Kandinsky-Ausstellung sehr auf Endorphinen und erreiche ebenso einen aufgeladenen Zustand, wie nach einem guten klassischen Konzert. Aber ich bin, ihr kennt mich ja, sehr empfänglich für all sowas.
Inwieweit Kandinsky jedoch eine angeborene Synästhesie hatte oder einfach nur konsequent seine Vision der Farben und Klänge durchgedrückt hatte – darüber streitet sich die Forschung bis heute. Doch dass unser geliebter Künstler wirklich wenig Menschen kalt lässt, ist Tatsache. Unzählige Sammlungen und Ausstellungen auf der ganzen Welt, tausende Besucher, tausende Artikel und Kunstbücher, Postkarten, Drucke usw. sprechen meines Achtens ganz dafür, dass er wohl doch mit seiner Kunst in vielen von uns einen ganz bestimmten Punkt unserer Seele berührt, was sonst selten einer schafft.


rechts: Improvisation 19, 1911
links: St. Georg III, 1911
Farbwirkung und Emotionalität
Kandinsky’s Absichten in der Malerei waren nicht nur ästhetisch geprägt, sondern spirituell-emotional. Mit seinen Farben und Formen wollte er gezielt im Betrachter ähnliche Gefühlsreaktionen auslösen wie Musik es tut. Er war überzeugt, dass Farben eine direkte „seelische Vibration“ hervorrufen können. Daher ordnete er Farben bewusst bestimmten Stimmungen und Klängen zu:
- Blau steht bei Wassily Kandinsky für Ruhe, Spiritualität und Unendlichkeit.
- Gelb hat eine exzentrische, hervorbrechende Wirkung und einen hohen, durchdringenden Klang.
- Rot symbolisiert Energie, Leidenschaft und Dynamik, ist dabei jedoch eine sehr widersprüchliche Farbe in Kandinsky’s Werk. Sie kann sowohl eine warme, reife und energiegeladene Kraft als auch eine innere Unruhe und Erregung darstellen. Rot kann gleichzeitig stürmisch und aufpeitschend, aber auch bodenständig und ruhig sein, je nach Nuance und Kontext.
- Schwarz und Weiß: repräsentieren Gegensätze wie Dunkelheit und Licht.
Außerdem nutze er bewusst musikalische Begriffe als Malstrategie. „Kompositionen“ waren bei ihm streng geplante, komplexe Werke, „Improvisationen“ hingegen spontanere, emotionale Farbklänge.
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