Mein Herz ist schwer, mein Kopf ist leer. Heute denke ich den ganzen Tag über eine Liebe nach, die mein Leben nachhaltig verändert und einen viel zu großen Teil meiner Gedanken- und Gefühlswelt einnimmt. Es geht um meine schmerzhafte Liebe zur Ästhetik. Wie ich hier bereits einige Male gestanden habe, liebe ich mit den Augen. Diese Liebe bewegte mich zu Dingen, die ich bereue, zu Elementen, ohne die ich nicht Leben kann und letztlich auch zu meinen ganz eigenen Untergängen, aus denen ich immer wieder wie neu geboren hervorgehe, als wäre nichts gewesen.
Heute Morgen sprach ich noch mit einem Freund, den ich darin verdächtige, mich in dieser Hinsicht gut zu verstehen. Er hat den Sinn für das Wunderbare, obschon wir beide feststellten, dass er, anders als ich, das Schöne besitzen will. Ich hingegen gebe mich offenbar damit zufrieden, es aus der Ferne zu betrachten, ohne zwingend den Anspruch zu haben, darüber zu herrschen. Ohne dieser distanzierten Annäherung kann ich aber nicht leben. Leide ich manchmal, weil ich das, was ich liebe, nicht beherrsche? Ja. Finde ich diesen Schmerz geil? Womöglich schon ein kleines bisschen.
Sie entdeckt ihre Liebe zum Schönen: Rote Tulpen
Die Liebe zum Schönen hat jeder von uns. Es weilen jedoch einige unter uns, die danach besessen sind. Ich zum Beispiel. Ich bin besessen – und ich weiß, von wem ich es vererbt habe. Mama jedoch hat es nicht vererbt. Also fragte ich sie heute, wie ihre Obsession zustande kam. Sie erzählte mir von der grauen und traurigen Oblast Donezk. Sozialismus, Kohlekraftwerke, Plattenbauten. Grauer Staub, graue Gesichter, matschiger Himmel. „Und dann sah ich sie“, erzählte sie mir, „rote Tulpen – inmitten all der grauen Massen (bitte mit russischem Akzent lesen, sonst kommt das nicht authentisch rüber)“. Sie sei damals erst 3 oder 4 Jahre alt gewesen und die roten Tulpen seien so riesig, dass ihre Blüten auf der Ebene ihrer Augen blühten.
„Ich war wie gelähmt von ihrer Schönheit, von ihrem Duft. Ich stand hypnotisiert da und taumelte“, sagte sie mir. Die roten Tulpen wuchsen in dem kleinen Garten meiner Uroma. Bis heute liebt Mama Tulpen mehr als alles andere. Für sie sind sie wahrscheinlich das Ebenbild der Perfektion, die sie damals so ergriffen hatte. Die Faszination für „das Perfekte“ fand sie auch in den Blüten und Früchten der Stachelbeeren in Uromas Garten. Später auch in einem schwarz-weißen Fotobuch der Sankt Petersburger Ermitage, das sie „löchrig blätterte“. Dann in den Architektur-Kursbüchern meiner Tante und dann ist das ganze komplett ausgeartet und wurde auf ein Level gehoben, das mich zu meiner Zeit hart traumatisiert hat.

Sie zieht es eiskalt durch…
Meine Mutter ist scheinbar wie der Freund, den ich heute Morgen gesprochen hatte – sie will sich ausschließlich mit dem Schönen umgeben. Und sie zieht es eiskalt durch. Ich jedoch, brauche das Hässliche, Stinkende für den Kontrast, um das Schöne deutlicher spüren zu können. Vielleicht einer der Gründe, warum ich Frankfurt liebe? Idk.

Dann sagte Mama: „Ich fragte mich schon immer wieder, wie sich meine Museumsbesuche während der Schwangerschaft auf dich auswirken würden.“ Tjaaaa. Meine Liebe zur Kunst ging irgendwann mit mir durch, als ich noch gar nicht in vollständigen Sätzen formulieren konnte. Kunst, Architektur, Couture, Autos, Diamanten, die Gesichter schöner Menschen – um ein paar meiner Fetische zu nennen. Ich würde am liebsten alles ablecken, was mir derart gefällt.
Habe ich meine Liebe verloren?
Neulich war ich in der Gemäldegalerie. Und weißte was? Als ich zwischen den ganzen Rubensen stand, dachte ich für einen Moment, ich hätte es verloren: Dieses Hochgefühl, dass immer dann aufkocht, wenn ich etwas sehe, das ich liebe und mein Herz beginnt anders zu schlagen und ich ein bisschen benebelt und lüstern werde. Es war einfach weg. Wahrscheinlich, weil ich die Rubense zuvor schon so lange angestarrt hatte, dass sie mich locker in meinen Träumen hätten heimsuchen können. Dennoch fühlte ich kaum etwas, als ich sie sah. „Ist es vorbei?“, dachte ich. Es fühlte sich ziemlich vorbei an.
Bei diesem Gemälde von Paul Peter Rubens würde ich immer etwas fühlen.
Dann betrat ich den nächsten Raum. Ich dachte, ich komme. Wirklich. Cranach d.Ä. en masse – Cranachs, die ich bislang noch nicht gesehen hatte, weil das letzte Mal, als ich in der Gemäldegalerie war, in diesen Räumen Umbauarbeiten stattfanden. Was auch immer die darin umgebaut haben. Ich war beruhigt – ich hatte meine größte Liebe nicht verloren. Sie war nur etwas betäubt. Doch was wäre, wenn ich sie eines Tages verlieren würde? Dieser Gedanke plagt mich seither und lässt mich nachts kaum Schlafen.
Kleiner Cranach-Reminder aus der Gemäldegalerie:





Ich will zum Punkt kommen. Besessenheit von den schönen Dingen dieser Welt – sie treibt mich voran, sie hält mich zurück, sie reißt mich zu Grunde, sie lässt mich Raum und Zeit vergessen. Sie macht mich geil, sie deprimiert mich, sie inspiriert mich, sie nimmt mir alles, was ich habe. Aber eins macht sie immer: sie nötigt mich regelrecht dazu, mich am Leben zu fühlen.
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