Heute sprechen wir über mein zurzeit geliebtes Thema: Kognitive Dissonanz. Gemeint ist damit der innere Zwiespalt, wenn sich zwei widersprüchliche Gedanken oder Gefühle gleichzeitig bemerkbar machen – ein innerer Kampf zweier Motive, der uns hin- und herreißt. Und während wir in jenem Zustand sind, stellt sich (hoffentlich) die leise Frage: „Was bin ich eigentlich für ein Mensch?“
Treten wir etwa nach außen hin überzeugt auf, während in uns Zweifel nagen, zeigt sich darin oft eine kognitive Dissonanz. Dieses unbewusste psychologische Phänomen tritt mit einem Spannungsgefühl auf. Es entsteht immer dann, wenn unser Denken, Fühlen und Handeln nicht im Einklang stehen. Doch was genau bedeutet das – und warum ist es so schwer, diese innere Spannung auszuhalten?
Kognitive Dissonanz: Ein Begriff aus der Psychologie
Den Begriff prägte der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger im Jahr 1957. Seine Theorie besagt: Menschen streben grundsätzlich nach konsistentem Denken – also danach, dass ihre Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen zueinander passen. Gerät dieses innere Gleichgewicht ins Wanken, empfinden wir Unbehagen.
Beispiele aus dem Alltag:
- Eine Raucherin weiß, dass Zigaretten schädlich sind, raucht aber trotzdem.
- Jemand will ein guter Partner sein, betrügt seine Verlobte aber mit 35 anderen Frauen.
- Konsumenten kaufen ein überteuertes, aber prestigevolles Smartphone, das objektiv kaum mehr Funktionen bietet, und rechtfertigen dies später mit angeblichem „besserem Design“.
- Eine Frau befindet sich seit Jahren in einer Beziehung mit emotionalen Missbrauch, leidet darunter, erkennt dies auch, doch beendet es trotzdem nicht.
- Ein Vater schlägt sein Kind regelmäßig und erzählt ihm im Erwachsenenalter, er sei ein sehr schwieriges Kind gewesen.
Meine persönliche kognitive Dissonanzen:
- Ich liebe es, dünn zu sein, aber ich liebe Pasta und Törtchen, die ich diesen inneren Kampf mal mehr mal weniger gewinnen lasse, obwohl ich es zu jedem Zeitpunkt meines Lebens liebe, dünn zu sein. Paradox? Ich glaube schon.
- Natürlich findet ihr auch bei avecMadlen tausendfache kognitive Dissonanz, die ich mir selbst zurechtgebügelt habe. Das erste, was mir spontan einfällt: am 11. Mai 2025 publizierte ich: Struktur statt Chaos: Mit diesen Gewohnheiten gewinnst du täglich und am 13. Mai 2025: Geheime Formel für Kreativität: ein bisschen Unordnung. Hä?
Natürlich hat mein Verhalten seine Gründe und Ursprünge. Doch dadurch werden die Bedürfnisse, die in mir koexistieren nicht weniger widersprüchlich. Was ist hier also los?
Der Mensch versucht, seine Dissonanzen aktiv abzubauen – meist unbewusst. Das funktioniert etwa durch Rechtfertigung, Bagatellisierung1 oder das Ignorieren widersprüchlicher Impulse und Bedürfnisse.
Warum erleben wir Dissonanzen?
Da die Theorie auf der Annahme basiert, dass psychisches Wohlbefinden stark mit kognitiver Konsistenz2 verbunden ist, stellen Widersprüche zwischen Wissen, Überzeugungen und Verhalten eine Bedrohung für das Selbstbild dar. Die Folge: Menschen sind bereit, teils absurde Erklärungen zu akzeptieren oder Informationen zu verzerren, um den inneren Konflikt zu lindern.
Neurobiologisch lässt sich dieses Unbehagen sogar messen. Während einer Dissonanzsituation wird vor allem der anterior cinguläre Cortex aktiviert wird – ein Hirnareal, das an der Verarbeitung von Konflikten und Fehlern beteiligt ist.
Mechanismen der Dissonanzreduktion
Menschen nutzen verschiedene Strategien, um kognitive Dissonanz abzubauen:
- Verhaltensänderung: Das eigene Handeln wird an die Überzeugung angepasst (Beispiel: Das Rauchen wird aufgegeben).
- Einstellungsänderung: Überzeugungen werden angepasst, um das Verhalten zu rechtfertigen („So schlimm ist Rauchen gar nicht“).
- Informationsvermeidung: Widersprechende Informationen werden ausgeblendet oder ignoriert.
- Selektive Wahrnehmung: Nur Informationen, die das eigene Verhalten unterstützen, werden wahrgenommen.
Diese Anpassungsmechanismen dienen weniger der objektiven Wahrheitsfindung, sondern eher der psychischen Entlastung.
Kognitive Dissonanz im Konsum und in der Gesellschaft
Besonders in der Werbung und im Marketing spielt das Phänomen eine zentrale Rolle. Unternehmen nutzen gezielt das Bedürfnis nach Konsistenz:
- Hochpreisige Produkte werden als „Lifestyle“ verkauft – wer sie nicht kauft, muss sich fragen, ob er „außerhalb des Trends“ lebt, außerhalb der Zugehörigkeit zum Kollektiv, das den meisten Menschen ein wohliges Gefühl beschert.
Auch in gesellschaftlichen Kontexten begegnet uns das Prinzip:
- Menschen bleiben in Gruppierungen oder Ideologien, obwohl ihnen innere Zweifel kommen – aus Angst vor dem Verlust ihres Weltbilds oder sozialen Status.
- Politische Polarisierung kann teilweise als Schutzmechanismus gegen kognitive Dissonanz verstanden werden: Informationen, die das eigene Weltbild in Frage stellen, werden abgewehrt.
Ein gesundes Maß an Dissonanz gehört zum Leben
Kognitive Dissonanz ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein zutiefst menschlicher Mechanismus. Sie hilft, ein konsistentes Selbstbild aufrechtzuerhalten und psychische Belastung zu vermeiden. Doch nur wer sich der eigenen Widersprüche bewusst wird, kann lernen, differenzierter und freier zu denken.
Psychologen raten: Statt jede Dissonanz sofort aufzulösen, lohnt es sich manchmal, das Spannungsgefühl auszuhalten. Es kann der Ausgangspunkt für persönliche Weiterentwicklung und echte Veränderung sein. Wird das aber zu intensiv, kann man sich die gegebene Situation auch aus unterschiedlichen Perspektiven ansehen:
Was genau bringt mir diese Kippe gerade? Beruhigt sie mich wirklich, oder ist sie der Ausdruck meines Suchtverhaltens? Was passiert, wenn ich in diesem Tempo so weiterrauche? Welche sofortigen Konsequenzen trage ich davon, wenn ich sie jetzt qualme? Wodurch könnte ich die Fluppe ersetzen? Gibt es eigentlich auch was Positives daran, bis auf das kurzfristige Gefühl der inneren Fülle? Welcher Mensch will ich sein? Einer, der raucht, stinkt und seiner Gesundheit schadet, oder einer, der dieses Problem in den Griff bekommen will und dies auch aktiv versucht?
No hate an die Raucher an dieser Stelle, ich rauche in bestimmten Lebenslagen selbst mal gerne eine. Meine Motive dahinter: Ich finde es ästhetisch ansprechend, wie das Zigarettchen da so elegant zwischen meinen Fingern glüht oder in anderen Szenarien auch meine ungeschliffene, maskuline Seite zum Vorschein bringt. Oder einfach nur nach außen trägt, wie verloren ich mich gerade fühle und mit sehnlichst wünsche, dass es von irgend einem anderen Lebewesen auf diesem Planeten bemerkt wird. Egal, welche Motivation dahinter steckt: Ich rauche, obwohl ich weiß, dass es mir schadet. Und das ist meine kognitive Dissonanz. Und was ist deine?
Artikelbild von Dasha Yukhymyuk auf Unsplash
Quellen:
- Festinger, L. (1957). A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford University Press.
- Harmon-Jones, E., & Mills, J. (Eds.). (2019). Cognitive Dissonance: Reexamining a Pivotal Theory in Psychology.
- van Veen, V. et al. (2009). „Neural activity predicts attitude change in cognitive dissonance.“ Nature Neuroscience, 12(11), 1469–1474.
- Veronika Stepanova: Когнитивный диссонанс / Внутриличностный конфликт (YouTube)
Fußnoten:
- Bagatellisierung bedeutet, ein Problem herunterzuspielen; einen Fehler oder eine unangenehme Wahrheit kleinzureden oder als unwichtig darzustellen – obwohl es objektiv betrachtet durchaus bedeutend oder ernst sein könnte.
Beispiele:
Jemand sagt nach einem Autounfall: „War doch nur ein kleiner Kratzer“, obwohl der Schaden erheblich ist.
In einer missbräuchlichen Beziehung: „Er hat mich angeschrien, aber ich kann das mittlerweile total gut ausblenden.“
Oder die Raucherin: „Rauchen? Ach, mein Großvater hat auch geraucht und ist 90 geworden.“
Oder ich, nachdem ich ein Törtchen inhaliert habe: „Ohne Törtchen fühlt sich die innere Leere in mir unerträglich an.“
Bagatellisierung ist eine Strategie zur psychischen Entlastung. Etwa um Schuldgefühle zu vermeiden oder kognitive Dissonanz abzubauen. Das Problem wird verharmlost, um sich selbst besser zu fühlen oder um Kritik abzuwehren. ↩︎ - Kognitive Konsistenz bezeichnet in der Psychologie das innere Gleichgewicht eines Menschen, bei dem seine Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen widerspruchsfrei und im Einklang miteinander sind.
Im Zustand kognitiver Konsistenz:
Passen Gedanken, Gefühle und Handlungen zusammen.
Erlebt eine Person keine innere Spannung oder Unruhe.
Das eigene Selbstbild bleibt stabil und logisch nachvollziehbar.
Beispiel:
Eine Person glaubt, Umweltschutz sei wichtig (Überzeugung).
Sie fährt deshalb Fahrrad statt Auto (Handlung).
Sie fühlt sich dabei gut (Gefühl).
Alles passt zusammen – es besteht kognitive Konsistenz. Das Streben nach kognitiver Konsistenz gilt als ein grundlegendes psychologisches Bedürfnis, weil es das Selbstwertgefühl stabilisiert und emotionale Belastungen reduziert. Gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken (etwa durch widersprüchliches Verhalten), entsteht kognitive Dissonanz. ↩︎