Es brach die frühe Weihnachtszeit an, als J. eines morgens aufwachte und sie weg war. Verschwunden, verschollen, entführt – in Luft aufgelöst. Sein Körper schien gelähmt oder beeinträchtigt, doch wie so oft wusste er nicht, die sich ergebene Situation zu beherrschen.
J. wusste, sie kommt zurück. Wo sollte sie denn ohne in hin? Er dachte, der Fels zu sein, den sie sich immer erträumt hatte. Warum sollte sie fort gehen? Sie würde schon wiederkommen – schließlich waren sie durch den Bund eines Versprechens füreinander bestimmt.
Mit dieser Überzeugung kroch J. aus seinem reizlosen Bette, in dem er bereits seit Tagen alleine schlief, ohne diese bis dahin bemerkt zu haben. Er fragte sich unaufhörlich, was sie geritten haben könnte, dass sie kurzerhand unterblieb. Sie war doch wohl irre.
Um Gras über die Sache wachsen zu lassen, lebte J. die nächste Zeit in dem Wunschtraum, sie durch Zufriedenlassen wieder zur Besinnung zu bringen. Jedoch vergingen Stunden, Tage, ja, sogar Wochen ohne jeder Spur von ihr. Hatte sie sich in einen anderen vernarrt? War sie es vielleicht schon die lange, trostlose Zeit ihrer Zweisamkeit? War sie überhaupt noch bei Sinnen? J. wusste keine Antwort darauf, die plausibel genug wäre, um dieses abwegige Verhalten, das sie ihm bot, darzulegen.
An ihre letzten Worte erinnerte er sich nicht. Und auch nicht an die Worte davor. Hatte er sie nicht gehört? Gehört, aber nicht hingehört? Dies spielte für ihn keine treffliche Rolle. Es war allein ihre Entscheidung, die sie aus heiterem Himmel gefällt hatte.
Was er nicht ahnte, ist dass sie nie weg war. Sie war da – in seiner Nähe, in seinem Bette. Bloß übersah er sie konsequent. Als er aber nichtstuend auf ihre Rückkehr wartete und sich ihrer Schuld an diesem Bruch so klar wie nie zuvor war, wurde sie immer unsichtbarer, bis sie schließlich, eine Schrift hinterlassend, irreversibel verschwand. Diese Schrift lesend verließ J. das Haus, ging über die eisigen, verschneiten Straßen, bis er letzlich eine vergleichbar vereinsamte Laterne fand, die herrenlos in einem dunklen Winkel vor sich hin leuchtete. Ihr Licht erhellte nicht das Geringste ihrer Umgebung.
J. stellte sich unter die Laterne und umfasste sie. Für einen Augenblick dachte er, sie wieder in seinen Armen zu halten und die Stimme zu hören, für die er bislang so taub gewesen ist. Er entkleidete sich sogar, um dieses Gefühl zu intensivieren.
Als der Frühling anflaniert kam, fand ein Arbeiter der Baden-Badener Stadtwerke die kaputte Laterne vor, die in erfrorene Reste menschlichen Fleisches geschmückt war und eine Glückseligkeit überkam sein Herz, wie er sie bislang noch nie verspürt hatte.
Ein Kommentar zu dieser kleinen Geschichte
Nun. Ganz davon abgesehen, dass diese Geschichte – und vielleicht auch mein Scheffelpreis – mir meinen ersten Job im Journalismus sicherten, war es ein Ausbruch meiner emotionalen Angestautheit, die mein erster Verlobter J. nicht verstehen wollte. Einerseits hatte ich Schwierigkeiten damit, adäquat zu artikulieren, was ich auf dem Herzen habe, andererseits wollte er es auch gar nicht wissen oder verstehen. Wiederum muss ich sagen, dass wir beide damals sehr jung waren und dass diese leere Schlucht zwischen zwei Individuen, die versuchen miteinander zu sein, vielen Leuten bekannt vorkommen sollte. Oder könnte.
„Die Verschmelzung“ entstand 2018. Die Trennung hatte mich damals schwer mitgenommen (obviously) und ich verkackte in diesem emotionalen Zustand halber mein ganzes Abitur am Rastatter Abendgymnasium. Aber alles, was in dieser Phase meines Lebens passierte, brachte mich näher mit mir selbst zusammen und zeigte mir den Weg auf, den ich wirklich beschreiten wollte.
Ich hatte wahnsinnig Spaß dran, diese Geschichte zu schreiben. Damals war ich so weit weg davon, mir vorstellen zu können, dass ich sie eines Tages veröffentliche. Oder dass das Schreiben eines Tages ernsthaft zu meinem Beruf wird. Aber so geht es vielen in meiner Branche. Grüße gehen raus an J. – schreib mir bloß nicht, Bruder.